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Seine Musik

Hänsel und Gretel: Der Welterfolg

Weimar, 23. Dezember 1893: Richard Strauss dirigierte die Uraufführung von Humperdincks Hänsel und Gretel. Dieses Datum wurde zum Wendepunkt in Humperdincks Leben, und eine ebenso einmalige wie unglaubliche Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf. Hänsel und Gretel wurde zum Welterfolg. Dabei ließen die Anfänge des Werkes noch nicht erahnen, was für ein gigantischer Erfolg sich daraus entwickeln würde: Adelheid Wette, Humperdincks Schwester, schrieb im Frühjahr 1890 ein Kinder-Märchenspiel Hänsel und Gretel, und sie bat ihren Bruder Engelbert, dazu Lieder „in Musik zu setzen“. Gedacht war es als Überraschung zum Geburtstag für Adelheids Mann Hermann Wette am 16. Mai 1890, aufgeführt durch die sieben- und achtjährigen Töchter Isolde und Gudrun. Vier Lieder vertonte Engelbert für zwei Singstimmen mit Klavierbegleitung.

Im August 1890 reiften bei Adelheid und Engelbert Überlegungen, das Märchenspiel weiter auszuarbeiten. Dies nahm Engelbert noch bis Spätsommer 1893 in Anspruch. Es gelang ihm unterdessen, bedeutende deutsche Opernhäuser und Kapellmeister für das Werk zu interessieren, und so kam es in kurzer Folge hintereinander zu Erstaufführungen in Weimar unter Richard Strauss und in München unter Hermann Levi, ferner in Karlsruhe (Dirigent Felix Mottl), Hamburg (Gustav Mahler), Berlin (Felix Weingartner) und allein bis Ende 1894 an weiteren 21 Bühnen im In- und Ausland, zuletzt an der Wiener Hofoper. Der renommierte Musikverlag Schott, mit dessen Inhaber Humperdinck seit langem bestens bekannt war, übernahm Hänsel und Gretel in sein Programm.
 

MDR Podcast

Ein Hexenritt in Weimar - Humperdincks Hänsel und Gretel erobert die Bühne

Es ist DIE Weihnachtsoper schlechthin und geschätzt wird sie von Kennern wie von Laien: Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel". 1893, am 23. Dezember, erlebte das Werk seine Uraufführung in Weimar (Feature vom 8.12.2023)


Auf einen Schlag wurde Engelbert Humperdinck weltberühmt und ein reicher Mann. Die Mischung aus bekannten Volksmelodien wie Suse, liebe Suse und Ein Männlein steht im Walde einerseits, eigenen volksmusikalisch inspirierten Melodien (Brüderchen, komm tanz mit mir), stimmungsvoller Waldromantik und feiner Instrumentierung andererseits machte Humperdincks Werk schnell populär. Bis heute wird die Märchenoper auf vielen Bühnen vor allem in der Weihnachtszeit aufgeführt.
 

Postkarte Hänsel und Gretel


Humperdincks Märchenopern

Mit Hänsel und Gretel galt Humperdinck als Märchenopernkomponist, der es geschafft hatte, einen Weg aus der Krise der Oper nach Richard Wagner zu finden. Sein Dornröschen (eine reine Gefälligkeitsarbeit für die Textdichterin Elisabeth Ebeling, deren Villa in Berlin er bewohnte), 1902 in Frankfurt uraufgeführt, scheint diese Sicht zu bestätigen, blieb jedoch ohne Erfolg und verschwand bald wieder von den Spielplänen.


Anders liegt der Fall mit den Königskindern. Dabei handelt es sich nicht um ein Märchen im Grimm‘schen Stil oder einer tradierten Märchenvorlage, sondern um ein symbolistisches Drama im Märchengewand, das zunächst gar nicht als Oper geplant war: Humperdinck wurde angefragt, lediglich die Bühnenmusik zu einem Schauspiel für das Königliche Hoftheater in München komponieren. Allerdings weitete er seine Musik – darin der Arbeit an Hänsel und Gretel nicht unähnlich – aus und konzipierte weite Strecken des gesprochenen Dialogs als so genanntes „gebundenes Melodram“, also als Sprechen in fixierten Tonhöhen. Mit dieser von ihm erfundenen Technik, die seiner Zeit weit voraus war, versuchte Humperdinck einen Kompromiss: nämlich opernhaft zu schreiben, dabei aber zu berücksichtigen, dass er nicht für Sänger, sondern für Schauspieler schrieb. Humperdinck, dem es mit diesem Werk endgültig gelang, sich vom übermächtigen Vorbild Richard Wagner zu lösen, stieß mit seiner Melodramtechnik ungewollt einen nachhaltigen Disput in der Musikwelt ‚Pro/Contra Melodram‘ an.
Mit Erfolg wurden die Königskinder 1897 in München aufgenommen und rasch an vielen Theatern nachgespielt, wobei die Umsetzung der Melodramtechnik durchaus unterschiedlich und nicht immer zur Zufriedenheit des Komponisten gelang. Allerdings gingen die Aufführungszahlen allmählich zurück – als zu groß erwiesen sich die Anforderungen an die Schauspieler –, so dass Humperdinck sich zu einer Überarbeitung entschloss, um seiner wertvollen Musik das Überleben dauerhaft zu sichern. So entstand eine reine Opernfassung, die mit überwältigendem Erfolg 1910 an der Metropolitan Opera in New York uraufgeführt wurde und anschließend in Europa einen Siegeszug antrat, der dem von Hänsel und Gretel kaum nachstand.
 

Postkarte Königskinder

Über die Ursachen, warum die Königskinder heute kaum mehr gespielt werden, kann man nur spekulieren: Sie sind sicher nicht ‚kindertauglich‘ wie Hänsel und Gretel und haben kein ‚happy end‘. Damit mussten sie die Erwartungen des Hänsel und Gretel-Publikums enttäuschen. Und gewiss spielte die jüdische Abstammung der Textdichterin Elsa Bernstein eine Rolle, was Aufführungen der Königskinder im NS-Staat erschwerte; Elsa Bernstein wurde von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert.

 

Mehr als nur Hänsel und Gretel

Der Ruf Humperdincks als Komponist von Märchenopern stellte bereits zu seinen Lebzeiten sein übriges Werk in den Schatten. Dabei war sein Lebenstraum die Komische Oper in der Tradition eines Lortzing oder Auber. Mit der Heirat wider Willen schien er diesem Ideal nahe zu kommen. 1905 wiederum unter Richard Strauss, diesmal an der Hofoper Berlin, uraufgeführt, konnte sie jedoch keinen nachhaltigen Erfolg verbuchen. Seine beiden letzten Opern, Die Marketenderin (1914) und Gaudeamus (1919) schließlich waren heitere und harmlose Spielopern, die schnell in Vergessenheit gerieten.
 


Während der Opernkomponist Humperdinck vergeblich seinem künstlerischen Ideal Komische Oper zu folgen versuchte, bot sich ihm eine andere Gattung an, mit der er wieder erfolgreich agieren konnte: Einer der wichtigsten Regisseure seiner Zeit, Max Reinhardt, beauftragte ihn ab 1905 mit einer Reihe von Bühnenmusiken für das Deutsche Theater in Berlin. Hier konnte der Bühnenkomponist Humperdinck seine reiche musikalische Theatererfahrung zum Einsatz bringen. Es entstanden teilweise sehr aufwändig besetzte Musiken, vor allem nach Shakespeare (Der Kaufmann von Venedig, Wintermärchen, Der Sturm, Was ihr wollt), aber auch nach Aristophanes (Lysistrata), Maeterlinck (Der blaue Vogel) und, 1911 für das Olympia Theatre London, Vollmoeller (Das Mirakel). Diese Aufführung wurde zu einem Triumph für Reinhardt und Humperdinck und bereits 1912 in Österreich verfilmt; für die musikalische Begleitung wurde Humperdincks Musik eingesetzt.

Zahlreiche Lieder zeugen von Humperdincks Gespür für die Singstimme. Die Maurische Rhapsodie (1899) ist sein größtes Orchesterwerk, seine Kammermusik beschränkt sich auf Gelegenheitskompositionen, aus denen ein frühes Klavierquintett (1875) und das späte Streichquartett (1920) herausragen.
 

Maurische Rhapsodie


Musikhistorische Einordnung

Zwei Wurzeln sind in Humperdincks Schaffen wirksam: Die traditionelle Konservatoriumsausbildung wurde zur Grundlage für eine virtuose Beherrschung des Kompositionshandwerks, die sich beispielsweise in der ungewöhnlich polyphonen Durchgestaltung sowie dem filigranen Orchestersatz seiner Werke zeigt und den großen Melodiker Humperdinck auch als Kontrapunktiker von Rang und Meister der Instrumentierungskunst ausweist. Der Einfluss des „Neudeutschen“ Richard Wagner ist vor allem in der Harmonik und den Klangfarben seines Orchesters erkennbar. Dabei hat Humperdinck die Grundlagen der traditionellen Harmonik und Formen nie verlassen oder zerstört und stand den avantgardistischen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts, etwa eines Arnold Schönberg, ohne Verständnis gegenüber.

Im Grunde kann Humperdinck als ein ‚Wanderer zwischen den Welten‘ gesehen werden: Noch während der konservativ-traditionellen Ausbildung bei Hiller und Rheinberger schloss er sich ästhetisch Richard Wagner, dem „Neudeutschen“ und damit der damaligen Moderne an. In seinen späten Jahren hielt er, als seine jüngeren Zeitgenossen wie Schönberg oder Busoni, partiell sogar der junge Richard Strauss Wege in die freie oder Atonalität suchten und fanden, unbeirrt an der Basis der traditionellen Harmonik und Formen fest. Einmal wagte er es, die Lanze weit in die musikalische Zukunft zu werfen, mit seiner Konzeption des gebundenen Melodrams in der ersten Königskinder-Fassung, zuckte jedoch nach einiger Zeit davor wieder zurück und arbeitete die Königskinder zu einer traditionellen Oper um. Dennoch: Die zukunftweisende Melodramtechnik Humperdincks wurde später von Arnold Schönberg wieder aufgegriffen, und Humperdinck bewies mit ihr endgültig seine stilistische Unabhängigkeit von Wagner.

Ein wesentliches Merkmal von Humperdincks Komponieren ist die Volksnähe seiner Melodien, die maßgeblich zu dem großen Erfolg von Hänsel und Gretel beitrug, aber auch vielen seiner übrigen Werke ihren Stempel aufdrückte. Dabei war ihm eine Volkstümlichkeit im Sinne von Mozarts Zauberflöte oder Webers Freischütz stets Vorbild, mit ihr (und dem ‚Volksgut‘ Märchen) fand er einen Weg, aus dem Schatten des übermächtigen Vorbildes Richard Wagner herauszutreten und einen Weg zur Komposition von Opern nach Wagner zu finden. Heute ist Hänsel und Gretel unverändert eine der international am häufigsten gespielten Opern. Begriffe wie Märchen, Weihnachten oder Wald sind durch dieses Werk weltweit untrennbar mit dem Namen Humperdinck verbunden.

Auch wenn Humperdinck mit seinen Märchenopern Hänsel und Gretel und Königskinder weltberühmt wurde, so war sein künstlerisches Ideal jedoch die komische Oper bzw. Spieloper, mit der er allerdings keinen nachhaltigen Erfolg hatte (Heirat wider Willen, Die Marketenderin, Gaudeamus). Humperdinck war als Lehrer hochgeschätzt; zu seinen Schülern gehörten Kurt Weill (1900–1950), Friedrich Hollaender (1896–1976) und Robert Stolz (1880–1975) – die jeweils eigene musikalische Wege gingen, Einflüsse von Volkstümlichkeit oder populären Musikformen zu verarbeiten.